Theodor Lipps (1851–1914)

Raumäshtetik und geometrisch-optische Täuschung (1897)

Kapitel I:
Ein Beispiel. Die dorische Säule.

[…] Hiermit ist zugleich genauer gesagt, worum es sich hier handelt: Das Sichaufrichten der Säule ist ihre «eigentliche Thätigkeit». Dabei ist das Wort Thätigkeit im vollen Sinne gemeint: als Anstrengung, Bemühung, Kraftaufwand; zugleich als Kraftaufwand, durch den etwas geleistet wird.
Solche Thätigkeit ist nicht ohne Gegenthätigkeit oder zu überwindenden Widerstand. Dieser ist hier gegeben durch die Schwere. Indem die Säule sich aufrichtet, und in dem Maasse als sie dies thut, überwindet sie die Schwere. Die Schwere wirkt in ihr so gut, wie die vertical ausdehnende, also gegen die Schwere gerichtete Thätigkeit. Aber dies hindert nicht, dass uns, wenn wir die Säule betrachten, und bis zu einer bestimmten Höhe über den Boden sich erheben sehen, nicht die Schwere, sondern die gegen dieselbe gerichtete «Kraft» als das eigentlich Thätige erscheint, dass nicht jene, sondern diese in unseren Augen die Leistung vollbringt, um die es sich hier eigentlich handelt, oder durch welche die Säule ihr eigenthümliches Dasein zu gewinnen scheint.

[…] Die Säule strebt aus ihrer Enge heraus, aber dies setzt die Enge, also die Wirkung der einengenden Thätigkeit voraus. Dieses Streben aus der Enge heraus ist die Kraft, die durch die einengende oder begrenzende Thätigkeit gebändigt, der Widerstand, der durch sie überwunden wird. Denken wir uns die Säule weiter eingeengt, oder in höherem Maasse horizontal begrenzt, dann strebt sie in höherem Maasse aus dieser Enge heraus. Umgekehrt fände in ihr gar kein solches Streben statt, wenn ihr horizontales Ausdehnungsvermögen ungehindert, also in’s Endlose sich bethätigen könnte. Dass dieses Vermögen in seiner absoluten Verwirklichung verhindert, oder die an sich unendliche horizontale Ausdehnung durch die Grenzen negirt wird, dies ruft erst die Spannung zwischen Ausdehnung und Begrenzung, diesen inneren Zustand der Säule, hervor. In diesem Sinne ist hier die begrenzende Thätigkeit die «eigentliche Thätigkeit».

[…] Die Säule ist nicht ein Ding, das vermöge der Schwere in sich zusammensinkt und horizontal sich ausweitet, sondern sie ist ein Gebilde, das trotz der Schwere und in Ueberwindung derselben sich zusammenfasst und aufrichtet. Oder: überlassen wir uns dem Eindruck der Säule und fragen, welche Bewegung sie auszuführen im Begriffe, oder worauf ihr Bemühen gerichtet sei, so sehen wir sie in Gedanken oder in unserer Phantasie sich weiter verengern und in verticaler Richtung wachsen.

[…] Die Form der Säule, die thatsächlich nur da ist, gewinnt für unsere Vorstellung ihr Dasein auf Grund gewisser mechanischer Bedingungen. Sie ist nicht blos, sondern sie wird, nicht einmal, sondern in jedem Augenblick von Neuem.

[…] Eine solche Betrachtungsweise liegt schon in jeder «Kraft», von der wir sagen, dass sie in irgend einem Dinge wohne, oder irgend einem Geschehen zu Grunde liege, noch deutlicher vielleicht in jedem «Streben» oder jeder «Tendenz», die wir in einem Geschehen sich verwirklichen lassen, in jedem «Thun» oder «Erleiden», in jeder «Activität» oder «Passivität». Alle solche Belebung der uns umgebenden Wirklichkeit kommt zu Stande, und kann einzig zu Stande kommen, indem wir das, was wir in uns erleben, unser Kraftgefühl, Gefühl des Strebens oder Wollens, der Activität oder Passivität, in die Dinge ausser uns, und das, was an oder mit ihnen geschieht, hinein verlegen. Die Hineinverlegung rückt uns die Dinge näher, macht sie uns vertrauter und damit zugleich vermeintlich verständlicher.

Kapitel III:
Der Raum als ästhetisches Object.

[…] Hiermit haben wir nicht nur einen Gegensatz von Thatsachen, sondern einen Gegensatz von zwei Thatsachenreihen gewonnen. Die materiellen Massen fügen sich zu einander, wie es nach Maassgabe ihres materiellen Verhaltens, ihrer Schwere, Festigkeit, Tragfähigkeit, u. s. w. zweckmässig oder dem materiellen Bestände des Ganzen dienlich erscheint. Die Formen fügen sich zusammen, wie es nach Maassgabe ihres ästhetischen Charakters oder ihrer für die ästhetische Betrachtung bestehenden Verhaltungsweise sinnvoll erscheint. Jener zweckmässige Zusammenhang der materiellen Masse ist real gegeben. Dieser sinnvolle Zusammenhang der ästhetischen Verhaltungsweisen ist nur ideell gegeben. In jenem besteht das technische Erzeugniss, dieser lässt dasselbe zum Kunstwerk werden. Wie überall, so ist auch hier der eigentliche Inhalt des Kunstwerkes eine und zwar in sich geschlossene ideelle Welt.

[…] Nur in einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich allerdings der Raum, der hier in Frage kommt, von dem geometrischen. Kein Sichbiegen und Sichschmiegen fände in ihm statt, wenn es nicht in ihm stattfinden könnte, d. h. wenn der Raum nicht ein krafterfüllter, wenn er nicht lebendiger Raum wäre. Dazu aber wird er für uns eben durch die Form. Der ästhetische Raum ist der lebendige, geformte Raum. Nicht so, als wäre er erst krafterfüllt, lebendig, dann geformt, sondern die Formung ist zugleich die Erfüllung mit Kraft und Leben.

[…] Die Architectur, ebenso die Keramik, Tektonik u. s. w. sind Künste der abstracten Raumgestaltung und Raumbelebung, Raumkünste in diesem Sinne.
ln diesen Raumkünsten erscheint noch dasjenige, was ihr eigentliches Object ausmacht, der krafterfüllte oder lebendige Raum, materialisirt, die Rolle hat noch einen materiellen Träger. Ist aber nur der krafterfüllte oder lebendige Raum das Object der Künste der abstracten Raumgestaltung, dann hindert nichts, dass der materielle Träger der Rolle wegfalle. Neben dem Bühnenkunstwerk, in dem wirkliche Menschen Menschen darstellen, steht das Epos, die Lyrik, in welcher die Sprachform der alleinige sinnliche Träger ist für das, was zur Darstellung gebracht werden soll. So kann auch in der Kunst der abstracten Raumgestaltung die Raumform für sich auftreten, nicht materialisirt, wenigstens nicht materialisirt in dem Sinn, in welchem die Marmorsäule ihre räumliche Form materialisirt.

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