Eugène Viollet-le-Duc
1814 – 1879
Für ihn ist die Gotik nicht nur eine mittelalterliche Geschmacksverirrung, sondern ein bedeutendes konstruktives Prinzip, dessen Gültigkeit bis heute nicht versiegt ist.
Insbesondere das Verständnis für die Gotik als mehr als ein «Spitzbogenstil» …
Die Gotik als Träger eines sehr flexiblen Struktursystemes, das auch noch für heutige Aufgabe maßgebend sein kann.
Sein Dictionnaire raisonné de l’architecture (10 Bände, Paris 1854 – 1868) ist leider nur teilweise ins Deutsche übersetzt. Es geht das Wesen der Baukunst wie ein Wörterbuch anhand abstrakter Begriffsbildungen an.
«Einheit»
Worauf sollte man das Gesetz der Einheit in der Architektur gründen, wenn nicht auf ihre Konstruktion, das heißt auf ihre Bauweise? | 10
In der griechischen Architektur herrscht das vollkommene Gesetz der Einheit, weil diese Architektur niemals uneins ist mit den Gesetzen ihrer Konstruktion. […] Wenn die Konstruktion sich ändert, ändert sich notwendigerweise auch die Form; […]. | 10
Einheit existiert nur, wenn das Verhältnis zwischen Architektur und Objekt ein inniges ist. Ein dorischer Tempel ist ein Typus, der architektonischen Einheit in sich trägt, aber aus dem dorischen Tempel eine Börse oder eine Kirche zu machen bedeutet die Zerstörung dieser Einheit. Denn um dieses Bauwerk einer anderen Nutzung anzupassen, muß man seine Verhältnisse verzerren und das zerstören, was seine Einheit ausmacht. | 13
«Stil»
Mit der Veränderung des Maßstabs ändert sich für den Architekten auch die Bauweise, und unter Stil verstehen wir nichts anderes, als die Wahl genau der Bauweise, die dem Maßstab entspricht, […]. | 27
Stil ist ein untrennbarer Teil von Architektur, wenn sich diese Kunst einer vernünftigen und harmonischen Ordnung unterwirft, wenn sie dieser Ordnung im Ganzen wie im Detail, vom Prinzip bis zur Form uneingeschränkt folgt, wenn sie nichts dem Zufall und nichts der Phantasie überläßt. | 36
Stil ist die Konsequenz eines methodisch befolgten Prinzips. Demnach ist er so etwas wie eine geschenkte Form, eine Form, nach der man nicht gesucht hat. Jede gesuchte Stilart ist manieristisch. Manierismus altert, Stil jedoch niemals. | 39
Der Stil wohnt viel eher in den großen Linien, in dem proportionierten, harmonischen Ganzen, und nicht in der Hülle, die man einem Werk der Architektur überwirft. | 40
Es ist das Gesetz des Gleichgewichts, das, in dieser Architektur erstmals angewandt, diesen Bauwerken Leben einhaucht, das innerhalb der Konstruktion gegensätzliche Kräfte ausbalanciert, Druck und Gegendruck, Auskragung und Gegengewicht, das die Schwerkraft derart auffasert, daß sie weit entfernt von dem Punkt abgeleitet wird, wo die vertikale Last angreift, das jedem Profil eine seinem Platz entsprechende Bestimmung, jedem Stein eine Funktion zuweist, so daß man nicht ein einziges Teil entfernen könnte, ohne das Ganz zu gefährden. Besteht nicht darin das Leben, […]? | 42
Eines der Kennzeichen von Stil ist die Anpassung der Form an das jeweilige Objekt. Wenn ein Bauwerk die Nutzung, für die es bestimmt ist, deutlich kundtut, ist es nahe daran, Stil zu haben; wenn aber der Bau darüberhinaus mit den Bauten seiner Zeit ein harmonisches Ganzes bildet, muß man geradezu von Stil sprechen. | 43
«Symmetrie»
«Konstruktion»
Die Baumeister hatten hier mit Hilfe der Gurtbogen und Schildbogen, die jedes Gewölbe unabhängig und widerstandsfähig machten, eine Art elastischen Rahmen gewonnen, auf dem sich, wenn er sich nicht verzog, die Gewölbe unabhängig voneinander bewegten konnten. Man wollte sogar noch einen Schritt weitergehen: Die konkaven Dreiecke, die Gewölbeflächen, sollten auch untereinander unabhängig sein. Und um dies zu erreichen, setzten sie die Gewölbe aus zwei unterschiedlichen Elementen zusammen: aus Bogen und Füllung. | 92
Die ersten Baumeister der eindeutig gotischen Gewölbe machten jedenfalls eine Sache ganze einfach: Statt wie die romanischen Meister den Rundbogen auf den Durchmesser AB aufzuzeichnen, zeichnen sie ihn auf den Durchmesser AD. Darin liegt tatsächlich ihre einzige Neuerung, und wir dürfen annehmen, daß sie keine Ahnung hatten, welche Folgen ein Vorgehen haben würde, das allem Anschein nach etwas ganz Selbstverständliches war. | 94 f.
Doch in der Kunst des Konstruierens, die ihrem Wesen nach logisch und auf Vernunft gegründet ist, führt die geringste Abweichung von den herkömmlichen Prinzipen zu unabdingbaren Folgen, die vom Ausgangspunkt weit wegführen. | 95
Die Baumeister hatten hier mit Hilfe der Gurtbogen und Schildbogen, die jedes Gewölbe unabhängig und widerstandsfähig machten, eine Art elastischen Rahmen gewonnen, auf dem sich, wenn er sich nicht verzog, die Gewölbe unabhängig voneinander bewegten konnten. Man wollte sogar noch einen Schritt weitergehen: Die konkaven Dreiecke, die Gewölbeflächen, sollten auch untereinander unabhängig sein. Und um dies zu erreichen, setzten sie die Gewölbe aus zwei unterschiedlichen Elementen zusammen: aus Bogen und Füllung. | 96
[Die gotische Bauweise] schafft Gleichgewicht, sie setzt Druckkräfte gegen die Kräfte der Spannweite, sie erwirbt Standfestigkeit durch Belastung, wodurch die verschiedenen Schubkräfte in vertikale Kräfte verwandelt werden und sich aufheben, was wiederum eine Reduktion der Stützenquerschnitte ermöglicht – das sind ihre Prinzipien, und es sind noch immer die Prinzipien einer guten modernen Architektur.» «Alle ihre Anstrengungen galten dem Gleichgewicht der Kräfte, und so sahen sie die Stützpfeiler nicht mehr als Bauglieder an, die durch ihre eigene Standfestigkeit in der Vertikalen gehalten werden, sondern durch die gegenseitige Neutralisierung aller einwirkenden Kräfte. | 115
[…] ist das Schöne nicht ewig an eine einzige Form gebunden. Das Schöne ist dort, wo form der Ausdruck befriedigter Bedürfnisse ist und einer angemessenen Verwendung des Materials. | 116
Masstäblichkeit
Mit einem Takt und einer Finesse, wie sie in unseren Tagen kaum noch geschätzt werden, entwickelt der Architekt des Mittelalters seine Konstruktion aus den Dimensionen des Gebäudes, an dem er arbeitet. Wie hoch oder flach ein Stein auch ist, welche Maße das Material auch vorgibt: er unterwirft sich von Anfang an der Maßstäblichkeit, die ihm sein Material auferlegt, und findet die jeweils passenden Proportionen für das große wie für das kleine Bauwerk. | 127
Er führt die Grundmauern in normalen, flachen Steinen auf, und wenn er überhaupt horizontale Profile vorstehen läßt, dann wird er darauf achten, diese so schmal und fein wie möglich zu machen, um der unteren wuchtigen Schicht ihre ganze Kraft zu erhalten, und er wird die horizontalen Linien gleichmäßig nach oben hin beibehalten, um die Stabilität zu betonen. Ab einer gewissen Höhe wird er spüren, daß die Gleichförmigkeit, die für die Grundmauern galt, nicht mehr richtig ist, daß die horizontalen Linien ihm die Wirkung der vertikalen Linien vereiteln würden. Deshalb setzt er vor die horizontalen Linien vertikale Säulchen als Gegenbewegung, die sich wie eine Zeichnung über die Grundstruktur legen. | 127 f.
Damit das Auge auch aus dieser Entfernung die Konstruktion als eine aus Steinen aufgetürmte erkennen kann, sind die Steinschichten an den Ecken mit hervorstehenden Haken versehen, die sich vor dem Hintergrund oder vor dem Himmel abzeichnen. Diese langen Reihen von Haken, an denen man die Steinschichten ablesen kann und die so die wahren Dimensionen der Türme erkennbar werden lassen, verdeutlichen die Maßstäblichkeit des Ganzen. | 128
Sind die Fenster sehr breit, so sind es die Fensterkreuze, die, in der Wiederholung, dem Auge die Dimensionen vorführen, an die es gewöhnt ist, so daß es die wirkliche Größe ermessen kann. Dazu noch sind die Fensteröffnungen mit Glasbildern geschmückt, die durch Einfassungen aus Eisen getrennt sind, und auch sie tragen dazu bei, den Öffnungen ihre wahre Größe zu geben. | 129
Aber die Fassade von Notre-Dame ist würdevoll genug, obwohl sie sich mit unserem unwürdigen menschlichen Maßstab begnügt; sie ist groß, sie erscheint groß, und doch bleiben die Häuser in ihrer Umgebung immer noch Häuser. Sie werden nicht zu Streichholzschachteln, und das kommt, weil bei der Fassade von Notre-Dame, wie groß sie auch immer sein mag, die Architekten sorgfältig darauf geachtet haben, von oben bis unten den menschlichen Maßstab beizubehalten, diesen uns so vertrauten Maßstab, den wir nicht selbst geschaffen haben, aber den wir lieben. | 133
Proportion
[…], ein Gebäude, das trotz seiner Wucht zu einem Gebilde von so unerschütterlicher Eleganz geworden ist, daß es auch das Auge des Uneingeweihten entzückt, das uns vorführt, was ein Architekt allein durch kluge Ausgewogenheit der Bausubstanz, durch das ausgetüftelte Verhältnis der Einzelteile zueinander, was er ganz ohne Zierrat erreichen kann. | 138
Alles ist nur Struktur, und die hervorgebrachte Wirkung verdankt sie der vollkommenen Harmonie der Proportionen. | 139
Bei den Griechen geht die Harmonie aus der Arithmetik hervor, im mittelalterlichen Abendland aus der Geometrie. Arithmetik und Geometrie sind jedoch Schwestern. In beiden Systemen findet sich ein vergleichbares Element: Verhältnisse von Zahlen, von Winkeln, von Dimensionen, die sich aus ähnlichen Dreiecken ableiten lassen. | 158