Auguste Perret

1874 – 1954

Ohne abgeschlossene Architekturausbildung ist Auguste Perret gleichsam in Unbefangenheit im Stande, Architektur ganz aus den ingenieursmäßigen Bedürfnissen des Bauens in Eisenbeton zu denken. Seine theoretischen Äußerungen sind zwar nicht besonders tiefgründig, doch wie er seinen Bauten in diesem neuartigen Material einen feinsinnigen Rhythmus mitzugeben weiß, gibt Zeugnis dafür, wie auch neue Baustoffe in ihrer baulichen Erscheinung nicht hinter überkommenen Bauwerken nachstehen müssen.

Beweglich oder unbeweglich, alles, was in den Raum ausgreift, gehört dem Bereich der Architektur an.

Die großen Gebäude von heute erlauben einen Knochenbau, ein Gerüst, aus Eisen oder aus armiertem Beton. Der Knochenbau ist für das Gebäude das, was dem Lebewesen das Skelett ist. so wie das Skelett des Lebewesens, rhythmisch, ausgewogen, ebenmäßig, verschiedene und ganz verschieden angeordnete Organe enthält und trägt, so muß das Gerüst des Gebäudes rhythmisch, ausgewogen und in sich selbst ebenmäßig ausgearbeitet sein. Es muß verschiedene und ganz verschieden angeordnete Organe, Organismen enthalten können, die die Funktion und die Bestimmung erfordern.

Wer irgend einen Teil des Gerüstes verbirgt, bringt sich um den einzig legitimen und schönsten Schmuck der Architektur. Wer einen Pfeiler verbirgt, begeht einen Fehler. Wer einen falschen Pfeiler setzt, begeht ein Verbrechen.

Derjenige, welcher, ohne die Baustoffe und die modernen Grundsätze zu verleugnen, ein Werk geschaffen hätte, das den Anschein erweckte, schon immer da gewesen zu sein, das, mit einem Wort, selbstverständlich sein würde, derjenige, behaupte ich, könnte sich zufrieden geben.


PERRET, Auguste: Zu einer Theorie der Architektur (franz. Original: Contribution à une théorie de l’architecture. Paris 1952). Übersetzt aus dem Französischen von Eva-Maria Thimme. Berlin: Der Beeken, 1986
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