Der Aufbuch des Baukörpers «zum Neuen Stil»

Henry Van de veldes Kunstschulbau in weimar

Van de Veldes Kunstschulbau, das heutige Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar, war für mich schon immer der einzige seiner Bauten, den ich als architektonisch bedeutsam empfand. Lange Zeit machte er nur von Abbildungen aus Eindruck auf mich und als ich ihm das erste Mal vor Ort gegenüber trat, bestätigten sich die bereits gehegten Ahnungen. Begibt man sich nämlich abseits des alltäglich-touristischen Treibens der Weimarer Innenstadt zum südlich gelegenen Campus und tritt in die dortige Hofsituation ein, vermittelt sich dem atmosphärischen Gespür ein deutlicher Umschlag. Unverkennbar geht dieser aus vom dortigen Bezugspunkt – dem einst von van de Velde errichteten Atelierbau. Um diesen webt ein regelrechter Nimbus, der trotz zahlreicher Macht- und Institutionswechsel sowie unglücklicher baulicher Eingriffe ringsum über die Zeiten nichts eingebüßt hat. Das Geheimnis dieser unversiegbaren Wirkmacht muss in seinen architektonischen Anlagen geborgen liegen, mit deren Hebung die folgenden Gedanken beschäftigt sind.

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Mit dem Neubau für die Großherzoglich-Sächsische Kunstschule hat Henry van de Velde dem »heiligen Boden Ilm-Athens« einen der nachhaltigsten Beiträge jüngerer Zeit zugesteuert und damit der Bauhaus-Universität bis heute ihr prägendes Denkmal und Wahrzeichen gewährt. Gleichwohl hat er hier womöglich das bedeutendste Werk seines eigenen architektonischen Schaffens aufgeführt, dessen immer gültige Strahlkraft nicht zuletzt die Einlösung seines Gestaltungsvorsatzes von der »Belebung des Stoffes« beglaubigt.

Das Bauwerk zum Auftakt des 20. Jahrhunderts gibt durch seine Erscheinung zu verstehen : die Architektur ist im Aufbruch begriffen. Sie schickt sich an, über ihr angestammtes und einengendes Regelwerk hinwegzukommen und so ziehen sich Fensteröffnungen plötzlich ungewohnt großzügig über die Fassade und überspringen die bisher abgemachte Demarkation der Trauflinie. Trotz aller Neuigkeit ist der Bau kein ausgesprochener Bruch mit der Überlieferung, was allein die schloss- und burgähnliche Typologie sowie die gute Nachbarschaft zum klassizistischen Coudray-Bau belegen, die nicht nur vordergründig auf Übernahme der weimargelben Tünche, sondern womöglich in der rhythmischen Angleichung beruht.

In welchem Style soll Van de Velde gebaut haben?

Seitens der Bauhaus-Universität zögert man nicht, Kunst- und Kunstgewerbeschule bei ihrer Erhebung in den Welterbestatus als »zwei der wichtigsten Bauwerke des europäischen Jugendstils« abzuhandeln. Derweil ringt die Gewissenhaftigkeit der Kunsthistorie sieglos darum, die Bauten einer klaren Stilrichtung zuzuordnen. Diese Unentschiedenheit muss umso mehr schmerzen, als van de Velde doch als einer der Künstler des Jugendstiles gilt. Solch unannehmlicher Lage lässt sich entgehen, indem das Gebäude aus rein architektonischer Sicht beschaut wird. Abseits kunsthistorischer Katalogisierung ist der Kunstschulbau nämlich zunächst einmal konstruktiv gedacht  –  und dies, obwohl van de Velde allgemein nicht als ein Architekt der Konstruktion, sondern des Ornamentes gilt.

Hüter hatte bereits auf einen dahingehenden Aufsatz van de Veldes hingewiesen, in welchem dieser Alfred Messel die Referenz für das Berliner Kaufhaus Wertheim erweist. Jene Großform hatte der Baumeister in eine Pfeilerstellung aufgelöst, an die die Decken angehangen werden und wozwischen weiträumige Öffnungen zur Verglasung verbleiben. Genau dies war auch das Konstruktionsprinzip der Bauakademie : Schinkel hatte die Konstruktion mit streng gerasterten Backsteinpfeilern aufgemauert und dazwischen die Deckenträger eingehangen. Freilich bleibt dieser noch an die herkömmliche Lochfassade gebunden, doch bereitet damit auch Messel den Weg. Was jene vorbereiten, führt van de Velde nun folgerecht weiter und schickt sich an, die Pfeiler befreit aufragen zu lassen. Der Baukörper bricht zu einer unerhört-neuartigen Offenheit auf und weist dabei auf eine architektonische Typologie, die womöglich nicht einmal als solche anerkannt ist.

Also hätte Zarathustra gebaut

Van de Velde hatte Nietzsches Zarathustra in eine Prachtausgabe gekleidet und stand denkbar unter Einfluss des Philosophen und dessen ersonnenen Weisheitslehrers, die es beide verstehen, in vielerlei baulichen Bildern zu sprechen. Die einzigen Gebäude, denen Zarathustra auf seinen Wanderungen im Lande der »letzten Menschen« über den Weg traut, liegen in Offenheit des ruinösen Zustandes  –  »wenn der reine Himmel wieder durch zerbrochne Decken blickt«  –  und er erwählt daher oft »an der zerbrochnen Mauer« seine Raststätte. Diese unverschlossenen, frei zugänglichen und großzügig sich öffnenden Baulichkeiten, die sich nicht wie die Häuser der »letzten Menschen« mit niedrigen Toren und kleinen Fenstern verschließen, gründen offenbar in der Lehre des Meisters von der »höchsten«, weil »unnützlichen«,  –  der »schenkenden Tugend«. Diesen vagen Verdacht erhärtend, trifft man van de Velde im Angesicht der ruinösen Säulenreste auf der Akropolis von einer unbelasteten, frei aufragenden Architektur sinnieren, die in ihrer Mitte einen lebenstragenden Raum, gleich eines Gefäßes, aufspannt. Es scheint, als hätte der Architekt unmittelbar im Vorausgang zum Entwurf dieselbe Mahnung von den griechischen Säulenfragmenten erhalten, wie kurze Zeit später seinerseits Rilke beim Anblick des Torso einer fragmentären Apollo-Statue : »Du mußt dein Leben ändern.« 

Allein der geforderte Zweck von ausreichend belichteten Ateliers gibt van de Velde Recht für das soweit als mögliche Aufbrechen der Nordfassade und damit der Anwendung einer solch ruinös-aufgebrochenen Typologie. Mit Bedenken zum sittlichen Anstand empfiehlt das zeitgenössische Handbuch der Architektur die Verlegung von Ateliers derweil auf die Rückseiten von Gebäuden  –  galt es nämlich als höchst unschicklich und schamlos, eine dergestalt aufgerissene Fassade der Öffentlichkeit als Schauseite darzubieten. Nicht zuletzt auch deswegen mag die »Bautengruppe van de Veldes […] ihren historischen Ort als eine Art künstlicher Ruine der höfischen Repräsentation« einnehmen.

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Die Einhang-Fassade in der »zerbrochnen Mauer«

Aus dem konstruktiven Prinzip der in Pfeiler aufgebrochenen Wand schlägt van de Velde nun also den Gewinn, der von seinen Vorgängern noch nicht eingetragen wurde und löst folgerecht die vormalig zusammenfassende Trauflinie auf, sodass die anschießenden Pfeiler befreit aufragen, ohne mehr unter lastendem Druck eines Dachkörpers zu stehen. Diese Neuerung soll ästhetisch nun weitreichende Folgen haben. In Sonderheit beim neuen Bauabschnitt des Mittel- und Westflügels (1910/11) spiegelt sich anschaulich ab, wie innerhalb weniger Jahre mit dem Bauteil des Fensters etwas gänzlich Neues vor sich geht. Während die Fenster des Ostflügels (1904) noch klassisch in den Hauskörper eingegliedert sind, beginnen sie hier nun freizubrechen und sich dadurch von ihrer unterstellten Rolle in der Fassadenwand unabhängig zu machen. Das Fenster emanzipiert sich zum gleichberechtigten Element, ist mithin nicht mehr nur unterstellte Lochung einer übergeordneten Fassade. Entsprechend warten die Fensterelemente eigens auf mit einem Gerüst aus Stahlprofilen, was sie als für sich stehende und eigenständige Fensterfassaden ausweist. Ihre Stahlprofilstürze sind zwar nur Dekoration, denn der darüberliegende Architrav verrät, dass ein Stahlbetonsturz hier mit seinen konstruktiven Kräften waltet, doch ihre Wirkung verfehlen sie nicht. Von ihnen, randseitig auf Gewänden und Betonwürfeln als unterstützende Kämpfer aufgesetzt, gehen die beiden senkrechten Stahlprofile ab, die das Fensterelement zu drei gleichen Teilen gliedern. Diese dünnen Vertikalen erscheinen nun neben den mächtigen Mauerpfeilern nicht als tragende, sondern vielmehr als hängende Bauteile : die Fensterfassaden sind in die aufgebrochene Mauer eingehangen.

Die Anmutung des Abhängens findet indes an weiteren Begebenheiten des Baukörpers ihren Widerhall : die Dachfenster, ausgerundet über den Knick der Traufe hinweggezogen, erscheinen, als würden weiche Matten abhängen.  Die Hohlkehlen unter der Traufe machen ebenso Glauben an textil eingehangene Zwischenfelder inmitten der Pilaster, deren Profilierungen als »lappenartige Gebilde« anmuten.  Beim Abschreiten der Nordfassade wollten sich mir die nach unten zeigenden Schraubenköpfe an den Flanschen der senkrechten Stahlprofile im Augenwinkel gar als herabhängende Voluten eines ionischen Kapitelles zeigen.  Die Pylone an den Ecken des Gebäudes und des Mittelrisalites mit ihrem leicht nach innen geneigten Abschluss, schenken die Erfahrung, dass der Baukörper wiederum zwischen sie eingehangen ist.

Aber nicht ruiniert …

Zurecht ersteht der Einwand, wieso der Baukörper bei all den ruinierenden Eingriffen nicht zum Fragment auseinanderfällt und gar destruiert oder dekonstruiert erscheint. Dies liegt in der in sich vollständigen Gestalt in Bindung zu einem einheitlichen Baukörper begründet und entscheidet sich an subtilen Maßnahmen des Architekten. Unter Aufbrechen der Traufe bleibt die zusammenhaltende Firstlinie intakt und ein Dachreiter pflockt den lang sich ausstreckenden Bau sichernd an Ort und Stelle ein; die wuchtigen Eckpfeiler tun ihr Weiteres zum gesicherten Stand hinzu. Überhaupt sind alle Pilaster so mächtig dimensioniert, dass ihnen zuzutrauen wäre, auch für sich alleine stehen zu können;  –  diese Bedingung der Ruine wird Albert Speer rückblickend in seiner »Ruinenwerttheorie« festhalten.  Die Pfeiler sind also nicht überdimensioniert, sondern für sich selbst standhaft, also wiederum selbstständige Elemente und bieten das sichere Widerlager zu den weit öffnenden Fensterfassaden. Die Pfeiler sind insbesondere durch die Abschrägung der Außenpfeiler in eine gemeinsame Beziehung gesetzt, sodass sie nicht nur als zusammenhangslos nebeneinander gestellt erscheinen. Auch sind die Fensterelemente nicht schlichtweg zwischen die Pfeiler eingesetzt, sondern mit genügend ›Fleisch‹ zwischen diese eingewoben. Gleichwohl sind die ausladenden Balkone nicht nur Abspiegelung der ovalen Innentreppe oder gar nutzlos, sondern notwendig, um die offene Pfeilerstellung ohne zusammenfassende Traufe miteinander zu verknüpfen, was dabei vorzüglich durch ihre gespannt-runde Form bewerkstelligt ist und seine Bestätigung in der sich verschränkenden Ornamentik der Balkonbrüstungen findet. Ihr Gegenspiel erhalten die Ausladungen übrigens in dem förmlich einladenden Sog des Haupteinganges, der der Fassade weiterhin stabilisierende Tiefe gewährt.

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Die Belebung des Stoffes im Detail

Dieser Bau erscheint in van de Veldes wild bewegtem Œuvre als außergewöhnlich schmucklos  –  und doch ist es einer seiner wirkmächtigsten Schöpfungen. Diese Lebhaftigkeit speist sich aus der feinsinnigen Gestaltung, die Nordfassade in ihrem Aufwärtsdrang mannigfaltige Eindrücke nach sich ziehen zu lassen. In Folge des Aufbrechens der Mauer vermeidet der Architekt möglichst horizontale Bündigkeit von zusammenfassender Wirkung und stuft alle Elemente in gegenseitigem vertikalen Versatz ab. So überragt der Mittelbau die Seitenflügel, die Pfeiler überragen die Dachlinie und sind der horizontal gebreiteten Fassade als Kolossalordnung vorgeschichtet. Die Pfeiler selbst, in ihrem Überschießen über den Dachrand, enden teils nicht gerade, sondern beinahe unmerklich nach innen abgekantet, um einen nach außen strebenden Drang anzuzeigen und das Gegenspiel zu dem nach innen geneigten Walmdach zu bieten. – Doch noch mehr : Die Fenster des Obergeschosses sind im Gegensatz zu denen des Erdgeschosses höher, was dem Bauwerk unmittelbar einen dynamischen Bewegungszug nach oben verleiht. Auch die Fenstertüren in den Glasfassaden überragen die Fensterflügel zu ihren Seiten, ohne mit einer bündigen Linie in die Glasfassade eingelassen. Auch die Fensterteilung ist nicht durchgehend quadratisch, sondern die unteren Felder bilden stehende Rechtecke, die eine nach unten ziehende  –  besser : abhängende  –  Bewegungsanmutung bezeugen. Auch sind die seitlichen Fenstergewände nicht über die volle Höhe geführt, sondern künden einen eigensinnigen Höhentrieb.

Van de Veldes festliche Feston-Fassade

Dass van de Velde sich für seinen Bau gänzlich auf »Versachlichung« beschieden hätte, daran lässt allein die festliche Erscheinung der Nordfassade zweifeln. Die Feierlichkeit, die hier trotz sparsamster architektonischer Mittel ergreift, ergibt sich zum Ersten aus der Auskostung des Prinzipes der freigestellten Pfeiler, die nun befreit mit stolzer Gebärde aufragen. Sie gleichen dem hoheitlichen Zeichen von Zinnen an Wehr- und Repräsentationsbauten, mit denen sich auch die benachbarte Unternehmervilla schmückt. Diese Pfeilerstellung stellt nun gleichsam die Brückenköpfe als Hoch- und Abhangpunkte für die Glasfassaden, die nun wie Girlanden überbrückend einhängen. Durch dieses Gehänge wird die aufgebrochene Fassade zum Zweiten also gewinnbringend zum feierlichen Behang umgewidmet und bietet gleichsam die gebaute Form des der Architektur als Ornament bereits vertrauten Festons dar, wie er etwa am Nationaltheater in Weimar (1908) reichlich als Bauschmuck zu finden ist. Als Textilkünstler war van de Velde selbst nicht nur mit Wandbehängen, sondern sicherlich auch mit der Lehre Gottfried Sempers vertraut, die die architekturtheoretische Erklärung zur feierlichen Wirkung textiler Behänge beisteuert. Semper hatte in einem Aufsatz den »Behang« als den Anmutigen unter den drei Schmuckarten herausgestellt, um in seinem Hauptwerk »Der Stil« schließlich das textile Gepränge zum »Festapparatus« schlechthin zu erheben, der nichts geringeres als die Begründung der Monumentalarchitektur bedeutet.

Dass nun keine frontale, sondern lediglich die seitliche Erschließung des Baukörpers möglich ist, gerät ihm in der Folge zum unverkennbaren Vorteil, da in der perspektivischen Verkürzung die Vertikalen der Fassade zusammengedrängt die Anmutung der eingehangenen Festons eindringlich darbieten. Bei Abtreten in den rückwärtigen Hofteil breitet sich schließlich die ganze Pracht der festlich-festonierten Nordfassade aus, die den Kunstschulbau trotz sparsamer Sachlichkeit zum wirkmächtigen Monument erhebt.

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