Struktur & Symbol

Die verkannten Konstruktionen des Mies van der Rohe.

Wenn die Sprache auf den modernen Baumeister Mies van der Rohe kommt, dann wird sein Schaffen meist unter seiner bekannten Formel «less is more» subsumiert. Doch ist sein Werk und Tun in dieser kurzen Sentenz tatsächlich schon erfasst? Wenn dem so wäre, dann hätte der Baumeister sicher nicht meist mehr an seinen Bauwerken getan, als er tatsächlich musste, – weit über die notdürftige Konstruktion und schlichte Form hinaus.

Sein Ausspruch wird heute oft in den Dienst gesetzt für die Rechtfertigung der unbedingt reduzierten und kargen Baugestalt. Dagegen war Mies stets darauf bedacht, seinen Bauwerken ihrem Zweck und Sinn gemäß ihre angemessene Gestaltung mitzugeben. Mies’ Architekturschaffen nämlich besteht darin, eine klare Konstruktion zur Struktur zu erheben und diese dadurch zum Symbol auszuformen, sodaß der Sinn des Bauwerkes in seiner Erscheinung Ausdruck findet.

Es ist konservativ, weil es nicht nur einen Zweck hat, sondern auch einen Sinn, weil nicht nur um die Funktion bedacht, sondern auch um den Ausdruck.

— MIES

Farnsworth House, Chicago (1950–51)

CC — Victor Grigas

Ein Zutrauen zur Natur und mehr als ein «Glass House».

Diese Ikone eines Wochenendhauses wurde seither mit allerlei architekturgeschichtlichen Meilensteinen in Verbindung gebracht: der Urhütte selbst, griechischen Tempeln, japanischen Häusern, Schinkels freien Kompositionen u. v. m. Unbestritten hält es all diese Verbindungen, doch in seiner Eigenständigkeit wird ihm eine historische Klassifizierung nicht gerecht.

Um sein Wesen zu erkennen, lässt es sich sehr gut absetzen gegen Philip Johnsons recht ähnliches «Glass House» (1949). Während dieses mehr oder weniger eine schlichte Glaskiste darstellt, die reglos auf dem Boden steht, tritt Mies van der Rohes Bau mit einer symbolisch-gebärdenden Konstruktion ins Zwiegespräch mit seiner Umgebung.

Mies musste das Bauwerk aufgrund der Gefahr von Hochwasser vom Boden abheben. Diese stolze und noble Erhöhung weiß er jedoch rückzubinden, indem die ausgreifende Terrassenplattform mit ihrer großzügigen Freitreppe die offene Zugänglichkeit des Hauses kundgibt. Es scheint sogar, als wäre jede einzelne auskragende Stufe ein kleine darreichende Geste.

Das Bauwerke breitet sich in den Richtungen aus und verzahnt sich gleichsam so mit der Umgebung, nicht zuletzt durch die offene Loggia und das befreite Ausbreiten der Konstruktion. Diese besondere Leichtigkeit und Ungebundenheit ergibt sich nämlich dadurch, daß sich die Sekundärkonstruktion über die Primärkonstruktion hinwegbewegt, was eine aufwendige Bezeichnung dafür ist, daß die Deckenplatte über die Ständer auskragt.

Gleich so, wie die umstehenden Bäume gestisch ausgreifen, um Räume aufzuspannen, traut sich das Farnsworth House ebenso in seinem offenen Gestus seiner Umgebung zu.

S. R. Crown Hall, Chicago (1954-56)

CC-BY-SA 3.0 — Joe Ravi

Überwindung der stählernen Industriehalle.

Bei der Architekturfakultät am IIT-Campus sucht Mies den großen, offenen Einheitsraum und wählt für die Konstruktion daher freitragende Vollwandbinder zur Überspannung der Halle. Eine solch stählernen Konstruktion kann es leicht unterkommen, einen Industriebau abzugeben. Daher sucht Mies nach dem Ausdruck eines monumentalen Gebäudes, das Fakultät repräsentiert und die Studierenden zur Einheit versammelt.

Ich wollte die beiden Gebäude in der Mitte des Campus, um es monumentaler wirken zu lassen und der Würde einer großen Institution Ausdruck zu verleihen. Ließ sich das mit den gleichen Mitteln erreichen? Das war in der Tat die Frage.

— MIES

Earo Saarinen hat das Bauwerk derweil einmal das «stolzeste» auf dem Campus genannt. Wieso kann er dies mit Bestimmtheit sagen?

Mies sockelt den Bau vom Boden auf, um ihn in seiner Bedeutung zu erhöhen. Derweil ragen die Vollwandbinder über die Deckenplatte hinaus und werden, gleich hoheitlicher Mauerzinnen, zur Gebärde stolzer Erhabenheit. In all dieser breitseitigen und elitären Repräsentation weiß die Crown Hall jedoch ihre Zugänglichkeit und Offenheit auszuweisen durch die großzügig ausladende Freitreppe mit ihrem weiten Plateau.

Unterdessen ist die Konstruktion nicht in die Klammer der vier Binder eingespannt, sondern bewegt sich gelöst über sie zur Seite hinweg, sodaß sich der Eindruck der befreiten Leichtigkeit einstellt.

Meiner Ansicht nach ist das Architektengebäude der vollkommenste und raffinierteste, und zugleich der einfachste Bau. Die anderen Gebäude kennzeichnet eine eher praktische, stärker an ökonomischen Gesichtspunkten orientierte Ordnung, während es bei diesem Bau eine eher geistige Ordnung ist.

— MIES

Seagram Building (NYC, 1958) &
860–880 Lake Shore Drive (Chicago, 1951)

CC — Ken Ohyama
CC — Kenneth C. Zirkel

Symbolische Differenzierung am Fassadendetail.

Die jeweilige Erscheinung der beiden Hochhaus-Projekte entscheidet sich sehr subtil an ihrem unterschiedlichen Fassadendetail und dadurch entsprechen sie symbolisch ihrem jeweiligen Zweck und Sinn. Die Lake Shore Drive Apartments in Chicago dienen als Apartmenthaus, der Seagram Turm in New York City als Firmensitz.

Mies van der Rohes Ecklösungen sind weltberühmt geworden. Beim Detail des Lake Shore Drive sind die Fassadenteile zwischen den Stützen und Deckenplatten eingesetzt, sodaß sich der Rhythmus der Fenster zu den Fassaden hin staucht sowie Deckenplatten und Stützen in der Fassade ablesbar bleiben.

Beim Seagram ist die Gebäudehülle als wirkliche Vorhangfassade konsequent vor die Stützen gesetzt, sodaß das Raster der Fassadenelemente über den gesamten Baukörper hinweg gestrafft und geglättet ist.

Bei Ersterem individuieren sich die Fensterelemente in eine abgeschlossene Symmetrie zu Einheiten, sodaß die parkettierte Fassade in der Erscheinung die Mannigfaltigkeit der Bewohner repräsentiert (auch wenn mehrere Fensterelemente einer Wohneinheit zugeordnet sein mögen).

Bei Zweiterem ist die Fassade als überspannte Vorhangfassade als eine Überblendung aller trennenden Geschossdecken und Stützen gestrafft und auf ein gemeinsames Ziel hin ausgelegt, um die Entität des Fimensitzes zu repräsentieren, was sich in dem zusammenfassenden Kopfteil des Wolkenkratzers vollendet.

Späterhin baut Mies neben den 860-880 Lake Shore Drive Apartments auch noch die 900/910 mit dem Fassadendetail des Seagram Turmes. Hier ist leicht zu sehen, wie viel schlechter diese Fassadengestaltung zu der Nutzung eines Apartmentshauses passt, als das Fassadendetail der älteren Zwillingstürme.

Bei späteren Hochhausscheiben mit dem selben Fassadenprinzip erreichen Mies’ Entwürfe auch nicht mehr diesen stimmigen Klang, weil sie sich eben nicht so individuieren wie das Seagram mit seiner klaren Höhenproportion. Sie gleiten in unfassliche und beliebige Mannigfaltigkeit ab.

Neue Nationalgalerie Berlin (1968)

CC — A.Savin

Ein stählerner Tempel für die Kunst in der «Schinkel’schen Tradition Berlins».

Als seine Mitarbeiter dem gesundheitlich bereits sehr angeschlagenen Baumeister Probeentwürfe im Geiste der Crown Hall in Chicago präsentieren, stellt er mit unmissverständlichen Worten klar:

Forget it, we are going to do the Bacardi/Schäfer concept. That belongs to Berlin.

— MIES

Die Neue Nationalgalerie entstammt nämlich zwei unausgeführten Entwürfen für das Bacardi-Gebäude in Kuba (in Stahlbeton) und dem Kunstmuseum in Schweinfurt. Glückliche Umstände ermöglichten es, daß der Entwurf schließlich in Berlin zur Ausführung kam, dort, wo er «im Einklang mit der Schinkel’schen Tradition Berlins» steht, wie Mies selbst sagt.

Mies weiß die schlichte Konstruktion aus acht Pfeilern und einem aufliegenden Trägerrost strukturell so zu verfeinern, um sie zu einem stählernen Tempel für die Kunst zu erheben, um dem hohen Zweck so gerecht zu werden.

Die beschwingte Leichtigkeit der Dachplatte, die oft mit asiatischen Pagoden verglichen wurde, rührt daher, daß Mies optische Verfeinerungen an der Konstruktion vornehmen ließ. Ihm war bewusst, daß eine völlig gerade Dachlinie den Eindruck des Herabhängens hervorrufen würde. So wurden die Ecken um fünf Zentimeter, die Mitte sogar um zehn Zentimeter überhöht, sodaß eine wirkliche Spannung das Gebilde durchwirkt und belebt, gleich der Kurvatur des griechischen Tempels.

Ähnliche Wirkung rufen die konisch zulaufenden Stützpfeiler hervor, welche Entasis erlaubt, geradezu von stählernen Säulen zu sprechen. Sie sind nicht einfach nur Stahlstützen, sondern symbolische Zeichen des Tragens.

Durch das Auskragen der Sekundär- über die Primärkonstruktion hinweg, wird das Bauwerk in seiner Monumentalität ein Symbol der Zugänglichkeit durch die umlaufende «Säulenhalle». Gemäß der Nutzung als Gebäude der Kunst erscheint das Bauwerk in der hohen Würde eines Tempels.

Von der Konstruktion zur Struktur zum Symbol.

Mies’ Meisterschaft besteht also nicht im Reduzieren der Baugestalt auf ihr absolutes Minimum zu abstrahieren, sondern darin, die einfache und sinnfällige Konstruktion zur Struktur zu erheben und sie damit zum Symbol zu verdichten. Die Konstruktion wird sozusagen zur Gebärde ausgeformt.

Die Struktur ist für Mies ein «allgemeines Prinzip», das den Baukörper über alle Maßstabsebenen hinweg durchwirkt. Dadurch werden der Struktur alle notwendigen Vorrichtungen (Treppen, Besprossung etc.) eingegliedert und der Bauorganismus bindet sich zu einem Symbol, der im Zwiegespräch mit seiner Umgebung steht.

Die Konstruktion folgt ihren klaren Gesetzen und kann gar nicht mehr erreichen. Aber wenn die Konstruktion zu einem Ausdruck erhoben wird, daß man ihr einen Sinn gibt, dann hat man eigentlich schon über Struktur zu sprechen. Die Konstruktion erfüllt eigentlich einen Zweck, und die Struktur gibt diesem Sachverhalt einen Sinn.

— MIES

Dies wird zudem noch sehr anschaulich dort, wo Mies es nicht recht schafft, die Konstruktion zum Symbol zu erheben. Dann wird sein Entwurf nämlich sogleich mit einer passenden Bezeichnung abgestraft. Dem entsprechend heißt die kleine Kapelle am IIT Campus (Carr Memorial Chapel), die auch ein Lagergebäude hätte abgeben können, unter den Studierenden schlichtweg: «God Box», weil sie eben nicht im Stande ist, ihre Konstruktion zum Symbol zu entfalten.

Mies van der Rohes Bauwerke machen es leicht, die Symbolik der Konstruktion zu studieren und Schlüsse zu ziehen, warum das «less is more» in der herkömmlich verstandenen Weise keinen zureichenden Arbeitsethos für einen Architekten abwirft. Jedenfalls ist Mies genau dann sehr gut, wenn er es schafft, die Konstruktion über die Struktur zum Symbol zu erheben, andernfalls bleiben die Bauwerke auf der Ebene der schlichten Konstruktion hängen und fallen in Belanglosigkeit ab.

Der Zweck eines Bauwerkes ist sein eigentlicher Sinn. […] Immer war der Zweck für den Bau entscheidend. Durch ihn erhielt er seine weihevolle oder profane Gestalt. […] Auch die weihevolle Sprache der Tempel und Kathedralen ist das Resultat eines Zweckes.

— MIES
error: Diese Inhalte sind geschützt.