Das Haus des Übermenschen

Wie würde Zarathustra bauen?

Nietzsches Zarathustra, der Wanderprediger, der inmitten freier Natur in seiner Höhle haust, verlässt sein Heim nur aufgrund seines eigenen Überschusses an Weisheit, der ihn hinunter in das Tal zu den Menschen treibt, um ihnen seine Lehre des Übermenschen zu künden. Als Wanderprediger zieht er ohne festen Wohnsitz durch die Welt und kehrt zwischenzeitlich wieder seine Höhle zurück. Schließlich verlässt er diese aber, als er seine letzte Sünde überwunden hat. Wohin es ihn nun treibt, bleibt offen. Sicher ist aber, dass die Höhle keine angemessene Behausung für einen angehenden Übermenschen darstellt. — Wie also würde Zarathustra sein Haus bauen?

1. Zarathustra der Höhlenmensch

Als Übergang und Brücke zum Übermenschen ist sich Zarathustra bewusst, daß er seine Entwickelung noch nicht abgeschlossen hat. Deswegen auch scheint er in der Höhle nur eine Übergangslösung zu seinen Wohnzwecken zu sehen, die er ganz offen als Symbol der Rückständigkeit verkündet. Denn ebenso die Kirchen des ihm verhassten alten Glaubens, «diese Hütten […], die sich die Priester bauten», sind ihm ebenso «süßduftende Höhlen», denen er erst wieder zuwenden möchten, wenn sie zerstört sind und «der reine Himmel wieder durch zerbrochne Decken blickt» [114].

Gleichzeitig verdeutlicht er den »Geist der Rache», von dem er die Menschen mit seiner Lehre erlösen möchte, mit dem Symbol der Tarantel, die versteckt in ihrer «Lügen-Höhle» [124 f] haust. Daß Zarathustras Höhle dabei selbst genauso ein Versteck darstellt, da er sich selbst noch nicht von seiner letzten Sünde, dem Mitleiden mit den höheren Menschen, gelöst hat, daran erinnert ihn der Wahrsager, der Zarathustras Höhle als «Versteck für Versteckte» [298] betitelt. Zarathustra jedoch bezeichnet seine Höhle derweil als «gross» [316], als er dort dort eine Gruppe der höheren Menschen als Gäste für das Abendmahl empfängt, wobei er gesteht, daß er, als er auf den Berggipfel emporsteigt, «hier oben […] schon freier reden» darf «als vor Einsiedler Höhlen» [292]. Zuletzt, als Zarathustra seine letzte Sünde überwunden hat, bricht er schließlich aus seiner Höhle aus und auf.

Also sprach Zarathustra und verließ seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. [404]

2. Zarathustra der Einsiedler

Zarathustra kam zu seiner Höhle, als er aus seinem vorigen Wohnsitz, dem «Hause der Gelehrten», ausgezogen war, wobei er «die Thür […] noch» hinter sich «zugeworfen» hatte, um endlich «weg aus allen verstaubten Stuben» [156 f] an frischer Luft in freier Natur leben zu können. Weil er also nicht weiter in den dunklen Kammern der Gelehrten sitzen mochte, erkannte er, daß er in seiner «Heimat Einsamkeit» [227 f] und «auf Bergen leben» [230] will. Im Gegensatz dazu sind ihm die Städte, wo sich die letzten Menschen sich versammeln, denen er vergeblich seine Weisheit bringen will, keine geeigneten Wohnstätten. «Die große Stadt» ist ihm der «große Abraum» [218 ff], an dem man am besten vorübergehen sollte.

Auf seinen Wanderungen zieht es Zarathustra dagegen an verlassene Orte wie Ruinen, wo er dann «an zerbrochenen Mauern, unter Disteln und rothen Mohnblumen» [156] liegt. Deswegen auch liebt er die «Kirchen und Gottes-Gräber» erst wieder, «wenn der Himmel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt» und er dann «gern […] gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kirchen» [284] sitzt.

Doch dies alles sind mitnichten Zarathustras Wohnstätten erster Wahl. Vielmehr zieht es ihn in «ferne Zukünfte» und in «heißere Süden, als je sich Bildner träumten» [243] und die «noch nicht entdeckt» [181 f] wurden, also weit weg von den letzten Menschen, um dort auf den «glückseligen Inseln» [ib] ein «Sitz für Einsame und Zweisame» [59] zu errichten.

3. Das Haus des letzten Menschen

Zarathustras Erfahrung mit der Welt führt ihn zu der Erkenntnis, daß die Erde «klein geworden» ist, da auf ihr «der letzte Mensch» hüpft [13] und daher stellt er fest, daß sich die Menschen-Erde selbst «zur Höhle wandelte» [270]. Bei seinen Gängen durch die Welt der letzten Menschen, fallen ihm auch die Wohnhäuser auf, denn als er einmal «eine Reihe neuer Häuser» sah, da erkennt er, daß sie «keine grosse Seele […] sich zum Gleichnisse» hinstellte und sie ihm eher anmuten, als hätte «ein blödes Kind sie aus seiner Spielschachtel» geholt. Bei ihrem Anblick fragt er sich, ob in diese Stuben und Kammern «Männer da aus- und eingehen» können. Überall sieht er «niedrige Thore», durch die er nur «gebückt» hindurchgehen kann. Da befällt ihn die Sehnsucht nach seiner Heimat, wo er sich «nicht mehr bücken muss vor den Kleinen» [207]. Er bemerkt, dass «Alles kleiner geworden» ist [ib], da die herrschende Tugend der Menschen eine verkleinerte «Tugend für Bescheidene» [208] ist. Demgemäß findet er für die kleingeistige Lebensweise der Menschen immer wieder architektonische Metaphern, wie das «Gefängnis» [49; 371] oder «Kämmerlein» für «Bet-brüder» [224].

Und wenn sie in ihren Kammern blieben, während du schon wach bist und kommst und schenkst und austheilst: wie würde darob deine stolze Scham zürnen! [401]

4. Vom ewigen Bauen

In Zarathustras Lehre der «ewigen Wiederkehr» ist das Bauen fest verankert als ein allgegenwärtiges Bild für die Bejahung des Lebens. Dazu bedarf es aber erst einmal überhaupt der Erbauung des Menschen, daß er sich zum Übermenschen umbilde. Und so liebt Zarathustra den, «welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue» [11]. Dazu müssen jedoch erst alle alten Tafeln und Werte zerbrochen werden, um darauf das Neue gründen zu können und so «mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrhheiten zerbrechen kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen!» [145]. Dieses Erbauen ist jedoch kein Festsetzen neuer Werte, sondern ein ewig wiederkehrender Prozess der Neuerschaffung, in dem «das Rad des Seins» ewig rollt:

Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. [268 f]

5. Der rechtwinklige Leib

Damit sich der Mensch zum Übermenschen hinaufschaffen kann, muss er zunächst seine Leiblichkeit wiederentdecken. Deswegen geht Zarathustra gegen die «Verächter des Leibes» vor und mahnt vor der stetigen Vergeistigung, daß man vielmehr «der Erde treu» bleiben soll [95]. Der neue Leib ist passend zur architektonischen Metapher des ewigen Bauens eine markante Erscheinung und so stellt sich Zarathustra den «gesunden Leib» vor als «der vollkommene und rechtwinklige», da er «vom Sinn der Erde» [34] redet. Unter seiner «neuen schönen Art» erkennt Zarathustra «Höhere, Stärkere, Sieghaftete, Wohlgemuthere», also «Solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele» [347]. Deswegen soll sich der Mensch nicht nur an seinem Leib erbauen, sondern auch bleibendes schaffen und über sich «hinausbauen». Dazu muss er aber erst «selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele», um dann seinem «Siege» und seiner «Befreiung» «Lebendige Denkmale» bauen zu können [86]. Und demgemäß, als Zarathustra einmal an alten Tempel-Trümmern vorbeikam, spricht er:

Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimnis alles Lebens wusste er gleich den Weisesten! [126 f]

6. Die Treppen des Übermenschen

Die Lehre des Erbauens hat auch seinen Sinn darin, daß Zarathustra mit der zunehmenden Höhe und Leichtigkeit seinem Erzfeind, dem «Geist der Schwere», zu entkommen sucht, weswegen er den Menschen «alle die Treppen des Übermenschen» zeigen will [20]. Das Leben soll sich in der ewigen Wiederkehr nicht nur erbauen, sondern «in die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen», weil es «in weite Fernen […] blicken» will und «hinaus nach seligen Schönheiten — darum braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.» [126] Demgemäß rät er den Menschen sich die Säule als Vorbild zu nehmen und dieser nachzustreben, denn «schöner wird sie immer und zarter, aber inwendig härter und tragsamer, je mehr sie aufsteigt» [148]. Die höheren Menschen erkennen dabei in Zarathustra selbst den dieses formgewordene Hinaufbauen, denn für sie ist er «noch der festeste Thurm und Wille – heute wo Alles wackelt, wo alle Erde bebt.» [372]. Deswegen rät der Weisheitslehrer den Erkennenden, daß sie mit «mit Bergen […] bauen lernen» [130]. Zarathustra verlangt für seine Behausung nach Höhe und da scheint der Turm die richtige Typologie, mit dem sich die hohe Entwicklung auch äußerlich zeigen kann.

«Denn diess ist unsre Höhe und Heimat: zu hoch und steil wohnen wir hier allen Unreinen und ihrem Durste» … «Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest» [S. 122]

7. Die schenkende Tugend

Doch Zarathustra will durch seine Lehre des Hinaufbauens nicht der Erde entfliehen, sondern «die höchste Tugend» ist ihm «die schenkende Tugend», sodaß der Erkennende sein Leben hingibt, um sein Werk als Schaffender der Welt zu schenken. Diese höchste Tugend ist «ungemein […] und unnützlich, leuchtend ist sie und mild im Glanze» [93] und deswegen dem Golde und der Sonne verwandt, weil diese sich ohne erwarteten Gegenwert immer schenken. Und so will auch Zarathustra kein unscheinbares Haus, sondern ein leuchtendes, das weithin in die Landschaft strahlt, denn sein Geschmack will «das tiefe Gelb und das heisse Roth». «Wer aber sein Haus weiss tüncht, der verräth» ihm «eine weissgetünchte Seele» [240]. Das Haus ist also keine für sich abgeschlossene und zurückgezogene Behausung, sondern ein selbstbewusst sich zeigender Baukörper, der nicht in vorgegebener Keuschheit sich blass in die Landschaft stellt.

8. Das Haus des Über-menschen

Zarathustras Haus, das Haus eines angehenden Übermenschen, wäre wohl als Sitz für Einsame ein einsamer Solitär in sonnig-südlichen Landschaften, der turmhaft in die Höhe steigt und seinem Bewohner die nötige Weitsicht gewährt. Der weit aufragende Turm öffnet sich hell und luftig der Welt und birgt in seinem Inneren lichte, hohe Räume für großgeistige Menschen. Dabei glänzt das Bauwerk weithin sichtbar in leuchtenden Farben, um sich selbstbewusst und verschenkend in der Welt zu platzieren. Nietzsche selbst meinte späterhin in dem Turiner Turm, der Mole Antonelliana – ein Bauwerk ohne Zweck, sozusagen unnütz und ungemein, das weit über die Stadt hinausragt – selbst seinen Zarathustra erkannt zu haben. Vielleicht ist dieses Bauwerk die Einlösung Zarathustras baulicher Vorsätze …


Literatur

Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine
Markus Breitschmid: Der bauende Geist
Jörg Gleiter: Der philosophische Flaneur
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